Zum Geleit
Die vorliegende Sammlung ausgewählter Aufsätze aus der Feder Leander Petzoldts stellt einen gelungenen Querschnitt aus dem vielseitigen und produktiven Schaffen des Wissenschaftlers und Freundes dar, dem ich mich seit vierzig Jahren fachlich, freundschaftlich-wissenschaftlich verbunden fühle. Begegnungen auf Kongressen und Tagungen, Gastvorlesungen und Symposien ließen immer wieder die Gleichgerichtetheit unserer wissenschaftlichen Bemühungen erkennen.
Der Band vereinigt neunzehn Beiträge aus dem Bereich der vergleichenden Erzählforschung, Brauchforschung und Volksreligiosität, sie weisen auf das breite Spektrum seiner wissenschaftlichen Interessen hin, wenn er Themen von der Magie über die Fastnachtsforschung bis hin zur Montanethnologie behandelt. Eine zentrale Stellung nimmt jedoch hier, wie in seinem Gesamtwerk, die vergleichende volkskundliche Narrativistik ein; sie war von Anfang an, wie seine Dissertation erweist, sein besonderes Anliegen. Die Auseinandersetzung mit spezifischen Fragestellungen zu den einzelnen Gattungsbereichen, Sage, Märchen, Mythos, Fazetie und Schwank ließ ihn immer wieder reiches internationales Vergleichsmaterial heranziehen und zu erhellenden Motivbeziehungen hinführen.
Im Untertitel des Werkes erscheinen die Begriffe "Volkskultur" und "Volksdichtung", die - so wird es heute immer offensichtlicher - in ihrer Verbindung ein kühnes Programm darstellen. Nun gehört Leander Petzoldt aber zu jenen Vertretern seines Faches, die über weitreichende Kenntnisse in der europäischen Kulturgeschichte verfügen, eine Eigenschaft, die man bei vielen jüngeren Autoren der Erzählpublizistik schmerzlich vermisst. Wenn er somit über mittelalterliche Dämonologien, über Vergil als Zauberer, über Albertus Magnus und die Magie, über den Griseldis-Stoff oder die Vorläufer des Don Juan schreibt, um nur einige Beispiele zu nennen, schöpft er aus einem breiten Wissensfundus und weist ideengeschichtliche Zusammenhänge auf, die weit über die eigentliche Literatur- und Kulturgeschichte hinausreichen.
Es versteht sich von selbst, dass sich der Verfasser auch an der lebhaften Diskussion um Gattungstypologien beteiligte, wie er dies vor allem in seinem Buch "Einführung in die Sagenforschung" (Konstanz 2002) getan hat. Einer der grundlegenden Aufsätze dieses Buches "Volkskultur im Wandel" beschäftigt sich mit der Dynamik von Volksüberlieferungen und nimmt dazu Bezug auf das Leitthema, "Tradition im Wandel", wobei dieser Titel durchaus doppelsinnig verstanden werden kann. Zunächst in dem Sinn, dass Traditionen sich über Generationen und Epochen hin wandeln, und etwas subtiler, als Hinweis auf die Tatsache, dass in jedem Wandel, in jeder kulturellen Veränderung auch immer traditionelle Elemente enthalten sind. Weitere Beiträge behandeln die Geschichte der Erzählforschung in Österreich, die Klassifikation von Volksprosa und den Bereich der modernen Sage ("contemporary legend").
Die in diesem Band vereinigten Einzelstudien bilden eine spannende Einheit. Sie wurden während der letzten 15 Jahre verfasst und z.T. an entlegener Stelle veröffentlicht. Diese zeitliche Eingrenzung verleiht dem Werk ein hohes Maß an Kohärenz und Aktualität, und die sich zwangsläufig ergebenden Synergieeffekte erhöhen seinen Wert. Nicht zuletzt ist es die Konstanz der streng philologischen Methode sowie Petzoldts knapper und präziser Schreibstil, die dem Werk eine bemerkenswerte Einheitlichkeit verleihen. Der Leser spürt das persönliche Engagement des Autors und das rege Interesse, mit dem er der Forschungsthematik gegenübertritt.
Gerade während der wissenschaftlichen Karriere Professor Petzoldts vollzog sich ein tiefgreifender Wandel seines Faches, weg von der "Volkskunde" hin zu einer "Europäischen Ethnologie". Die Umbenennung eines universitären Faches ist oft ein Zeugnis des Ungenügens oder fachlichen Identitätsverlustes. Blättert man aber im vorliegenden Werk, wird einem immer mehr bewusst, wie eng die Erforschung der Volksdichtung mit den Entwicklungslinien einer allgemeinen europäischen Kulturgeschichte verwoben ist. Es handelt sich zumeist um gemeineuropäische kulturelle Traditionen, gleichviel ob der Autor über Albertus Magnus, Mozart oder die Romantik schreibt. Sie verbindet ein ununterbrochenes Band europäischer Entwicklungen. Auch deswegen ist dieses Buch so wichtig, nicht nur als Desideratum, sondern auch als ein Fazit langjähriger Forschungen.
Vilmos Voigt, Universität Budapest
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